Bei Lesern einer Schachzeitschrift mit Tradition von Anspruch kann man davon ausgehen, dass sie eine Affinität zum geschrieben Wort haben. Bei keiner anderen Sportart ist es in vergleichbarer Weise möglich, seine Spielstärke durch die Lektüre von Büchern zu verbessern. Ein Großteil der Schachliteratur befasst sich mit den Eröffnungen. In diesem Beitrag werde ich einige allgemeine Beobachtungen über die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig Jahre mit Annotationen der in den letzten fünf Jahren – größtenteils in englischer Sprache erschienenen – Bücher und Medien verbinden.
In den achtziger Jahren war die Literatur über die französische Verteidigung noch überschaubar. Zu nennen wären Slotniks Französisch-Monographie (Schmaus Verlag, 1982), der Französisch-Band von Alexei Suetin in der Eröffnungsreihe des Sportverlags, der Französisch-Band in der Reihe Euwes Schacheröffnungen und last but not least die von mehreren Großmeistern verantworteten Analysen in der Enzyklopädie der Schacheröffnungen Band C. Diese Werke sind natürlich veraltet, haben noch aber noch immer ihre Anhänger. Wie mir neulich ein Zweitligaspieler bei einer Partieanalyse erzählte, griff er immer noch gerne zu Slotniks Buch, um sich auf eine Partie vorzubereiten. Mir ist Slotniks Eingeständnis in Erinnerung geblieben, dass er bei der Arbeit an seinem Buch in der Variante
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Se7 7.Dg4 0–0 8.Sf3 Sbc6 9.Ld3 f5 10.exf6 Txf6 11.Lg5 e5 12.Lxh7+ Kxh7 13.Dh5+ Kg8 14.Lxf6 gxf6 15.dxe5
den Zug 15…Df8 entdeckte und Lev Psachis davon in Kenntnis setzte. Der Leser seines Buches wurde über seinen Fund indes nicht informiert.
Für die nachfolgende Explosion an Büchern war die digitale Revolution verantwortlich. Bis zur Jahrtausendwende erschienen noch – natürlich mehrbändige – Versuche, Französisch aus einem „objektiven“ Blickwinkel zu analysieren. Zu nennen sind Lev Psachis‘ vierbändige Untersuchung über Französisch (Batsford 2003 und 2004) und Steffen Pedersens dreibändige Darstellung (Gambit 2001, 2005 und 2006).
Werfen wir zunächst einen Blick auf jene Werke, welche dem Schwarzspieler die typischen Strukturen und Spielweisen ohne einen Wust von Varianten vermitteln wollen. Klassiker dieses Genres sind das noch immer lesenswerte „Wie spielt man Französisch? von Shaun Taulbut (Walter-Rau-Verlag 1984) und „Mastering the French with the read and play method“ von Neil McDonald und Andrew Harley (Batsford 2001).
Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist offensichtlich, dass diese Werke nicht so schnell veralten. In der vom englischen Gambit Verlag herausgegebenen Reihe „Chess Explained“ veröffentlichten Viacheslav Eingorn und Valentin Bogdanov 2008 die Ausgabe über die Französische Verteidigung. Der ukrainische Großmeister Eingorn und sein früherer Sekundant Bogdanov versuchen anhand von 25 ausführlichen kommentierten Partien, die typischen Ideen zu erläutern. Das Material ist nach den Eröffnungszügen gegliedert und nicht nach strategischen Themen wie „der schlechte Läufer c8“ etc. Die Autoren vermitteln einen konzisen Überblick über den Stand der Theorie. Es gelingt Ihnen meines Erachtens aber nicht, die Logik der Eröffnung in einer Weise zu erklären, wie es andere Autoren dieser Reihe – wie Yermolinski und Wells – vermocht haben. Diesen Autoren gelang es, dem Leser durch ausführliche strategische Erläuterungen den Eindruck zu vermitteln, die Varianten zu „verstehen“. Die andere Herangehensweise von Eingorn mag daran liegen, dass die Nebenvarianten z.B. der Winawer-Variante einem verallgemeinernden Ansatz nicht so zugänglich sind. Einige Auslassungen sind auffällig: Beispielsweise wird bei der Vorstoßvariante 3.e5 das Milner-Barry-Gambit nicht erwähnt.
Das moderne Repertoirebuch
1984 ist nicht nur der Titel eines bekannten Werks von George Orwell, sondern auch das Erscheinungsjahr des ersten modernen Repertoirebuchs. Der amerikanische IM John Watson veröffentlichte bei Pergamon Chess „Play the French“. Gewiss hatte es schon vorher Bücher gegeben, in denen ein Eröffnungsrepertoire zusammengestellt wurde. Aber keines hatte jemals zuvor die Tiefe und Innovationskraft erreicht, welche der amerikanische IM präsentierte, dessen analytische Fähigkeiten seine Spielstärke am Schachbrett weit übersteigen. Das Repertoire der ersten Auflage basierte auf der Winawer-Variante – einmal mit 4.e5 c5 und auch mit 4.e5 Dd7 – sowie auf der Tarrasch-Variante mit 3…Sf6 und Db6 und als Alternative 3…c5 4.exd Dxd5. Watson schrieb in den beiden folgenden Ausgaben, erschienen 1996 bei Cadogan und 2003 bei Everyman Chess nicht einfach seine Repertoirevorschläge fort, sondern passte sie neuen Entwicklungen an. So verabschiedete er sich von 3…Sf6 gegen die Tarrasch-Variante zugunsten des von Morosewitsch popularisierten Wartezugs 3…Le7. Während die Winawer-Variante weiterhin als wichtigste Antwort gegen 3.Sc3 in mehreren Kapiteln ausführlich analysiert wurde, hielt auch die klassische Variante 3…Sf6 4.Lg5 de 5.Se4: Le7 Einzug. Watsons Analysen haben einen leichten Schwarz-Bias. Schachfreunde, die eine der Auflagen aus der weißen Sicht studierten, teilten mir deprimiert mit, dass sie vergeblich nach einer Variante mit Ausgleich für den Weißspieler Ausschau gehalten hätten. Diese Bewertung ist natürlich übertrieben. Watson hatte gelegentlich die für den Anziehenden beste Spielweise in einer Nebenvariante „versteckt“ und in der Hauptvariante Schwarz in Vorteil kommen lassen,
Die vierte, für August dieses Jahres angekündigte vierte Auflage, wird von den Französisch-Fans mit Spannung erwartet. Die Messlatte liegt diesmal aufgrund der in anderen Verlagen erschienenen und angekündigten Literatur hoch.
Watson ist in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. In der von Everyman Chess herausgegebenen Reihe „Dangerous Weapons“ verantwortete er den Titel über Französisch: The French. Dazzle your opponents! Die deutsche Ausgabe erschien 2011 unter dem Titel „Französisch – Gefährliche Waffen. Verblüffen Sie Ihre Gegner“
Um den Leser mehr Orientierung zu vermitteln, wurden zur Hervorhebung des Texts Zeichen eingefügt: eine Kanone für eine gefährliche Waffe, welche den gewünschten Effekt erzielt; ein Blitz, der den Anwender einer gefährlichen Waffen vor unerwünschten „Kollateralschaden“ an sich selbst warnen soll; zwei Würfel signalisieren, dass diese Empfehlung eher für Partien mit verkürzter Bedenkzeit geeignet ist und ein aufgeschlagenes Buch soll eine mögliche Zugumstellung anzeigen.
Das Buch ist in zwei Hälften gegliedert, in dem einmal Systeme für Weiß und einmal für Schwarz untersucht werden. So untersucht Watson aus weißer Sicht eine der Hauptvarianten im McCutcheon 5.e5 h6 Le3 oder selten gespielte Nebenvarianten wie 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 Dg4. Für die Schwarzspieler hat er fast nur selten gespielte Spielweisen zu bieten, die den Gegner früh aus der Theorie locken sollen, aber nicht als „gefährlich“ zu bezeichnen sind: 3.Sc3 Sc6, 3.Sc3 h6, 3.Sd2 a6 und 3.Sd2 Sc6. Die Präsentation der Varianten folgt diesem Schema: zunächst eine kurze Einführung, anschließend ein oder zwei Partien zur Illustration und zum Schluss die theoretische Betrachtung „looking a little deeper“. Anhänger von Nebenvarianten mögen einige der Kapitel von Nutzen finden. Fragwürdig ist aus meiner Sicht die Formatierung des Textes. Everyman verwendet hier einen einspaltigen Druck, wodurch das Einfügen eines Diagramms viel Platz verschenken würde. Um ein gleichmäßiges Druckbild zu erreichen, werden immer zwei Diagramme nebeneinander gesetzt. Er kommt nicht selten vor, dass der Leser eine Seite vor- oder zurückblättern muss, um das Diagramm zur Notation zu finden. Die Lesbarkeit wird auf diese Weise enorm eingeschränkt.